Authentizität und industriekulturelles Erbe
Eine Kulturlandschaft neuen Typs
"Authentizität und industriekulturelles Erbe. Zugänge und Beispiele" lautet der Titel eines Buches, das das Deutsche Bergbau-Museum Bochum jetzt herausgegeben hat. Darin widmen sich verschiedene Autoren unter anderem der "Musealisierung" industrieller Hinterlassenschaft. Die Historikerin Helen Wagner etwa zeigt anhand der Route Industriekultur auf, wie sich das Ruhrgebiet von einer Industrielandschaft zu einer "Kulturlandschaft neuen Typs" entwickelt. Wagner stammt aus Essen, studierte Geschichte und Philosophie in Münster und machte in Berlin einen Master in Public History. In ihrer Dissertation beschäftigt sie sich mit der Bedeutung von Geschichte für den Strukturwandel im Ruhrgebiet.
Aktuelle Publikationen des DBM
Mit dem international renommierten Wissenschaftsverlag De Gruyter haben das Deutsche Begbau-Museum Bochum und das Montanhistorische Dokumentationszentrum montan.dok seit Herbst 2019 einen neuen Partner zur Veröffentlichung der eigenen Forschungs- und Arbeitsergebnisse. Diese werden in den Reihen "Veröffentlichungen aus dem Deutschen Bergbau-Museum Bochum" und "Schriften des Montanhistorischen Dokumentationszentrums" publiziert. Vier Bücher sind bis Ende 2020 bereits erschienen.
Zeugen der Geschichte
Frau Wagner, inwieweit taugt das Ruhrgebiet – und dabei besonders die Route Industriekultur – eigentlich als Objekt wissenschaftlicher Untersuchungen?
Das Ruhrgebiet eignet sich als Untersuchungsobjekt für ganz verschiedene wissenschaftliche Disziplinen und ist schon aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln erforscht worden. Aus Sicht der Geschichtswissenschaft ist es besonders für die Geschichte der Industrialisierung, aber auch für die Geschichte der Arbeit und der Arbeiter/innenbewegung ein interessantes Untersuchungsbeispiel. Historiker/innen forschen aber nicht nur zu der Zeit, in der das Ruhrgebiet zur zwischenzeitlich bedeutendsten Industrieregion Europas aufstieg, sondern auch zu seiner wirtschaftlichen Krisenzeit seit Ende der 1950er-Jahre und zur Geschichte des Strukturwandels, den diese Krise angestoßen hat.
Die Route Industriekultur ist daher gleich doppelt aufschlussreich. Viele Standorte stehen für die Geschichte der Kohle- und Stahlindustrie sowie für die Lebenswelt der Menschen, die in diesen Industrien gearbeitet haben. Die Route ist aber als Projekt gleichzeitig auch ein gutes Beispiel für die Geschichte des Strukturwandels, da sie als ein zentraler Baustein der Ende der 1990er-Jahre entwickelten Tourismus-Strategie "Reisen ins Revier" für die Bemühungen der Region steht, sich im Strukturwandel neue wirtschaftliche Standbeine zu erschließen, wie etwa einen auf Industriekultur ausgerichteten Tourismus. Anhand der Route Industriekultur kann ich also gut zeigen, wie die industrielle Vergangenheit des Ruhrgebiets zu einer Ressource für die Zukunft der Region umgewandelt wurde.
Laut Karl Ganser, dem damaligen Geschäftsführer der IBA Emscher Park, galt das Ruhrgebiet bis zur IBA in den 1990er-Jahren als "ein Raum für Arbeit und Wirtschaft, der kaum Möglichkeiten zur Entfaltung von Kultur und Freizeit bot und dessen Landschaft keinerlei ästhetischen Wert aufwies". Hat er Recht?
Mit dieser Einschätzung beschrieb Ganser nicht, wie es im Ruhrgebiet aussah, sondern wie es wahrgenommen wurde. Er kritisierte, dass das Ruhrgebiet bis in die 1980er-Jahre ausschließlich als Industrielandschaft wahrgenommen wurde, deren politische und raumplanerische Gestaltung sich vor allem an Belangen von Arbeit und Wirtschaftsleistung, nicht aber von Kultur und Ästhetik ausgerichtet habe. Mit dieser Einschätzung hatte er also insofern Recht, als das Image des Ruhrgebiets bis weit in die 1980er-Jahre von der Montanindustrie und von ihrer Krise bestimmt war. Auch wenn es überregional bekannte und renommierte kulturelle Institutionen und Angebote wie etwa die Ruhrfestspiele oder stadtplanerische Projekte zur Gestaltung von Grünzügen oder ästhetisch anspruchsvollen Wohnsiedlungen gab, war das Image der Region doch eher das der grauen und tristen Industrielandschaft.
Die Selbstdarstellung der Region, wie sie etwa in der bekannten Kampagne des KVR (heute RVR) "Das Ruhrgebiet. Ein starkes Stück Deutschland" zum Ausdruck kam, war bis in die späten 1980er-Jahre entsprechend vor allem vom Wunsch nach Normalisierung geprägt. Der ewige Versuch, sich vom Image der Industrielandschaft zu lösen und zu zeigen, dass das Ruhrgebiet nicht nur eine weiterhin wirtschaftlich starke, sondern auch grüne und vielseitige Kultur- und Freizeitregion sei, trug eher dazu bei, das negative Image zu verstärken als es aufzulösen.
Heute ist im Zusammenhang mit dem Ruhrgebiet häufig die Rede von einer "Kulturlandschaft neuen Typs". Was ist damit gemeint?
Diese Bezeichnung wurde im Rahmen der IBA Emscher Park in den 1990er-Jahren für das Ruhrgebiet geprägt und beschreibt im Grunde die Idee, sich vom Ziel der Normalisierung zu verabschieden und ein eigenes landschaftliches Ideal zu vertreten. Das Ziel sollte nicht mehr die Umwandlung einer als ästhetisch wertlos empfundenen Industrielandschaft zum Ideal einer bäuerlich geprägten, von jeglicher Industrie unberührten Kulturlandschaft sein. Vielmehr galt es, bestehende landschaftliche Ideale umzudeuten und das industriell geprägte Ruhrgebiet als eine einzigartige Landschaft mit einem ganz eigenen ästhetischen Wert zu präsentieren. Bauliche Überreste der Industrie sollten daher nicht mehr als hässliche Verschandelung der Landschaft angesehen, sondern durch künstlerische Gestaltung ästhetisiert und durch neue Nutzungen wie etwa im Landschaftspark Duisburg Nord oder dem Gasometer in Oberhausen zu Kulturstandorten verwandelt werden. Für die Vermittlung dieses neuen Landschaftsideals war die Route Industriekultur ein wichtiges Instrument. Sie sollte Besucher/innen von inner- und außerhalb des Ruhrgebiets sowohl bedeutende Einzelstandorte wie etwa die Zeche Zollverein oder die Hattinger Henrichshütte präsentieren als auch diese Einzelstandorte zu einem Netzwerk verbinden, über das die Region als zusammenhängende Landschaft sicht-, erfahr- und erlebbar gemacht werden sollte.
Die Route Industriekultur ist ein Netzwerk von Einzelstandorten – das macht aber noch keine Kulturlandschaft. Oder doch?
Zwischen den beiden Funktionen der Route, einerseits Einzelstandorte touristisch zu erschließen und in ihrer besonderen historischen Bedeutung hervorzuheben, diese Einzelstandorte aber andererseits auch als zusammenhängendes Netzwerk und landschaftliche Einheit zu präsentieren, besteht ein gewisses Spannungsfeld. In der Kulturlandschaftsforschung wird betont, dass die Wahrnehmung eines Raums als zusammenhängender Kulturlandschaft einerseits nur über die Präsentation von Einzelstandorten möglich ist. Sie dienen als Orientierungspunkte, die die Landschaft räumlich erfahrbar machen. Andererseits kann diese Hervorhebung einzelner Orte innerhalb der Route auch dazu führen, dass die Besucher/innen sich auf einzelne Leuchttürme wie etwa Zollverein fokussieren und die räumlichen Bezüge zwischen den Standorten der Route in den Hintergrund rückt. Gerade diese räumlichen Zusammenhänge soll die Route aber vermitteln, da sie eben nicht voneinander unabhängige Sehenswürdigkeiten, sondern die Industrielle Kulturlandschaft des Ruhrgebiets erfahrbar machen will. Dass es sich dabei um eine schwierige Aufgabe handelt, zeigt auch der Versuch, das Ruhrgebiet als Industrielle Kulturlandschaft auf die deutsche Vorschlagsliste für eine Bewerbung um den Titel des UNESCO-Weltkulturerbes setzen zu lassen. Ein Grund dafür, dass der erste Versuch im Jahr 2014 vor dem Fachbeirat der Kultusministerkonferenz scheiterte, war die zu starke Fokussierung auf Einzelstandorte, hinter der die landschaftlichen Zusammenhänge zu verblassen drohten. Ob sich diese Spannung auflösen lässt, wird sich an der überarbeiteten Bewerbung um einen Platz auf der Vorschlagsliste noch zeigen.
Sie schreiben vor allem über die Wichtigkeit von Authentizität. Ist das Angebot auf der Route Industriekultur authentisch?
Um die Frage, was eigentlich authentisch ist, gibt es seit längerem eine breite wissenschaftliche Diskussion. Wenn es um die Darstellung von Geschichte in Museen, Gedenkstätten oder allgemein im öffentlichen Raum geht, ist die Frage der Authentizität stets von besonderer Bedeutung. Ausstellungsobjekte in Museen oder historische Bauwerke machen Geschichte durch ihre Materialität gleichsam greif- und erfahrbar. Sie gelten als authentisches Zeugnis für das, was in einer Ausstellung oder in anderen Formen der öffentlichen Darstellung von Geschichte über die Vergangenheit erzählt werden soll, weil sie als Überreste aus der Vergangenheit einen als echt empfundenen Zugang zu ihr geben.
Die breite gesellschaftliche Sehnsucht nach Authentizität, wie sie etwa von der bekannten Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann beschrieben wird, macht Authentizität zu einem wichtigen ökonomischen Faktor, wenn es um auf Geschichte bezogene touristische Angebote wie etwa die Route Industriekultur geht. Für die Initiator/innen der Route war es daher ein wichtiges Ziel, die Standorte der Route als authentische Zeugen für die Geschichte des Ruhrgebiets, die sie mit der Route erzählen wollten, zu inszenieren – die Geschichte eines bedeutenden Wirtschaftsraums, der sich erfolgreich einem strukturellen Wandel gestellt hat. Die Standorte der Route sollen also nicht nur Auskunft über die industrielle Geschichte der Region geben, sondern vor allem auch die Geschichte eines erfolgreichen Strukturwandels bezeugen.
Die Frage ist also aus meiner Sicht nicht, ob die Route authentisch ist oder nicht, sondern wie sie als authentisches Zeugnis für eine bestimmte Sicht auf die Geschichte des Ruhrgebiets dargestellt wird. Wie man die Geschichte des Ruhrgebiets betrachtet und erzählt, ist dabei ständig im Wandel. Die Antwort auf die Frage, wofür die Route Industriekultur als authentisches Zeugnis gilt, würden wir daher heute zwei Jahre nach der Stilllegung der letzten noch fördernden Zeche des Ruhrgebiets vielleicht schon wieder anders beantworten als noch vor gut 20 Jahren, als sie zum Ende der IBA Emscher Park eröffnet wurde.